Was ist evolutionäre Medizin?
Evolutionäre Medizin ist ein noch sehr junges Gebiet der Medizin, das unter Voraussetzung evolutionärer Prinzipien vor allem am Verständnis der Entstehung und des Verlaufs von Krankheiten interessiert ist.
So sind wir die Nachkommen derjenigen Menschen, die jeweils am besten an ihre Umwelt angepaßt waren und sich daher erfolgreich fortpflanzen konnten. Unser Körper ist also das Resultat unserer eigenen Entwicklungsgeschichte (Evolution). Die Grundlage der Evolution bilden unsere Gene, die mit jeder neuen Generation von den Eltern an die Kinder weitergegeben werden. Doch bei der Teilung von Zellen und der Bildung von Keimzellen schleichen sich Fehler ein, was dazu führt, dass sich die genetische Information zwischen zwei Individuen durchschnittlich um drei Millionen Buchstaben (sog. Punktmutationen) unterscheidet, was angesichts einer Gesamtzahl von über drei Milliarden Buchstaben aber verschwindend gering ist.
Die Mehrzahl derartiger Punktmutationen hat keinerlei Auswirkungen auf unsere Gesundheit und bleibt daher zeitlebens unbemerkt. Ändern sich jedoch die Umweltbedingungen, so kann der Träger einer bestimmten Punktmutation unter Umständen einen Überlebensvorteil haben, sich daher erfolgreicher fortpflanzen als seine Mitmenschen und eben diese Punktmutation an seine Kinder und Enkelkinder weitervererben. Ein bekanntes Beispiel ist die Verträglichkeit von Milchzucker (Laktosetoleranz) auch noch im Erwachsenenalter. Eine Punktmutation kann sich für seinen Träger jedoch auch als negativ herausstellen. So haben so genannte gute Futterverwerter bei Nahrungsknappheit einen deutlichen Überlebensvorteil. Bei dem heutigen Nahrungsüberangebot laufen sie jedoch Gefahr, übergewichtig zu werden und an Diabetes zu erkranken.
Während das Auftreten von Punktmutationen dem Zufall überlassen ist, erbrachte der noch junge Wissenschaftszweig der Epigenetik im Rahmen von Tiermodellen und epidemiologischen Studien am Menschen inzwischen jedoch den Beweis, dass wir mit unserem Lebensstil (z.B. Ernährung, Bewegung, soziales Umfeld, Kontakt mit Umweltgiften, …) aktiv Einfluss darauf nehmen, welche Gene in unseren Zellen abgelesen werden und welche nicht. Dies hat wiederum direkte Auswirkungen auf die Synthese von Eiweißmolekülen, die für unseren Zellstoffwechsel von zentraler Bedeutung sind. Finden Veränderungen von epigenetischen Regulatoren in unseren Keimzellen statt, so hat dies sogar Auswirkungen auf unsere Kinder und Enkelkinder. Dieser Mechanismus verhalf unseren Vorfahren dazu, dass sie sich schneller und effektiver an sich ändernde Umweltbedingungen anpassen konnten. Unser moderner Lebensstil (Fehlernährung, Bewegungsmangel, …) kann jedoch zu Fehlregulationen und Krankheiten führen.
Ein weiterer Schwerpunkt der evolutionären Medizin ist die Erforschung von Krankheitsursachen, da die moderne Medizin oftmals nur die Symptome von Krankheiten behandelt. Aus evolutionärer Sicht stellen Symptome aber Anpassungen dar und sind daher primär als nützlich einzuschätzen (auch wenn das auf den ersten Blick nicht immer ersichtlich ist). So ist Fieber das körpereigene Heilmittel im Kampf gegen Bakterien, die sich bei erhöhten Temperaturen meist nur noch schlecht oder gar nicht mehr fortpflanzen können, was unserem körpereigenen Abwehrsystem einen deutlichen Zeitvorsprung im Kampf gegen die Eindringlinge verschafft. Die Einnahme von Fieber-senkenden Medikamenten ist daher nicht immer sinnvoll, da sie den Krankheitsverlauf unter Umständen sogar verzögern kann. Selbst lästige Begleiterscheinungen wie Appetitlosigkeit, Mattigkeit und Müdigkeit sind aus evolutionärer Sicht durchaus sinnvoll, da sie dem Körper die nötige Ruhe verschaffen, die er benötigt, um sich dann voll und ganz der Bekämpfung der Krankheitserreger zu widmen.
Diese kurze Einführung kann sicherlich nur einen kleinen Einblick in die Denkweise der evolutionären Medizin geben. Entscheidend ist, dass die Schulmedizin keinesfalls ersetzt, sondern sinnvoll ergänzt werden soll, wobei unser körpereigenes Immunsystem, das sich über Jahrmillionen in Wechselwirkung mit unserer Umwelt entwickelt hat, unser engster Verbündeter bei der Bekämpfung von Krankheiten sein muss. So darf z.B. die Bekämpfung von Symptomen dem körpereigenen Immunsystem nicht den Wind aus den Segeln nehmen. Weiterhin zeigt auch die aktuelle Diskussion um die steigende Zahl von resistenten Keimen, dass die Schulmedizin dringend auf alternative Behandlungsansätze angewiesen ist. Die schnelle Anpassung von Bakterien an Antibiotika ist ebenfalls ein sehr gutes Beispiel dafür, wie evolutionäre Ansätze uns helfen können, Krankheitsphänomene besser zu verstehen und damit auch effektiver behandeln zu können.